Liebes Forum,
ich habe "Wenn der Wind sich hebt" gestern an der internationalen Animationsausstellung in Baden (Schweiz) gesehen und habe einen Kommentar dazu verfasst. Es ist kein klassischen Review mit den üblichen Kategorien, weshalb ich es einen Kommentar nenne.
Ihr könnt Text auch auf meinem Blog lesen, in etwas ansprechender Textgestaltung: http://anibusters.com/wenn-der-wind-sich-hebt/
Ein Kommentar zu Wenn der Wind sich hebt
Le vent se lève! . . . il faut tenter de vivre!
Der Wind erhebt sich! Leben: Ich versuche es! (dt. nach Rainer Maria Rilke)
Wenn der Wind sich hebt, dann müssen wir versuchen zu leben. Dieser Vers aus Paul Valéry Le cimetière marin („Der Friedhof am Meer“) dient als Leitmotiv für Hayao Miyazakis Abschiedswerk. Wie der Beobachter in Valérys Gedicht, versucht auch Jiro Horikoshi, in einer verrückten Welt, die auf ihren Untergang zusteuert, lediglich seinen Lebenstraum vom Flugzeuge Bauen zu verwirklichen.
In seinem letzten Werk wird Miyazaki zur Überraschung – und für manche zum Leidwesen – profan. Keine zauberhafte Fantasiewelt erwartet die Zuschauerinnen und Zuschauer in Wenn der Wind sich hebt, sondern ein historisch angesiedeltes Porträt eines umstrittenen Volkshelden. Jiro Hirokoshi war der Entwickler des im Zweiten Weltkrieg gefürchteten A6M Zero Jagdflugzeugs der Kaiserlich Japanischen Marine. Dieses technisch überlegene Kampfflugzeug verlieh den japanischen Streitkräften ungeheure Schlagkraft und war massgeblich am Angriff auf Pearl Harbor beteiligt. Heute ist Hirokoshi in Japan für die einen ein Wissenschaftsheld der japanischen Industrialisierung und für die anderen ein amoralischer Waffenschmied, der für die Katastrophe von Hiroshima und Nagasaki mitverantwortlich war, was Miyazaki an mehreren Stellen andeutet.
Der in seinen Filmen stets unpolitische – aber nicht so in seinen Medienauftritten – Miyazaki betritt mit dieser Geschichte neues und tückisches Terrain. So erntete sein jüngstes und bedauerlicherweise letztes Oeuvre viel Kritik, die zwischen den Polen Landesverrat und Verharmlosung eines Waffenentwicklers vom Schlage Werner von Braun oszilliert. Doch wer denkt Miyazaki würde in seinen Filmen jemals klare Positionen beziehen, kennt sein Lebenswerk nicht gut. Man darf darin nicht nach „der Botschaft“ oder „der Aussage“ suchen, denn die wird man nicht finden. Miyazaki ist ein Meister, wenn es darum geht Komplexität auszudrücken, was wohl nirgends deutlicher zum Ausdruck kommt als in seinem brillanten Film Prinzessin Mononoke. Anstatt den Moralapostel zu spielen, drückt der japanische Kultregisseur lieber die Vielschichtigkeit von menschlichem Handeln aus. Wenn er Eingriffe in die Natur kommentiert, dann kritisiert er diese nicht nur, sondern bringt zugleich die subsistenzielle Notwendigkeit der Menschen ans Licht, welche diese Eingriffe tätigen. Das moralische Urteil allerdings, ist stets seinen Zuschauern überlassen. Doch dieses Mal wird Miyazaki etwas deutlicher und veröffentlicht zeitgleich zu seinem Film einen Zeitungsartikel, in dem er die angestrebte Verfassungsänderung der Regierung Abe kritisiert, welche den Artikel 9 abschaffen will, mit dem Japan darauf verzichtet Konflikte mit Ausübung oder Androhung von militärischer Gewalt, zu lösen. Eine klare Position des stets unpolitischen Miyazaki, der aber deutlich macht, dass sein Film nicht als Romantisierung eines Helden verstanden werden soll, sondern als Porträt eines Menschen.
So geht er auch mit seinem Protagonisten Jiro Hirokoshi um. Anstelle ihn im Kontext seiner Wirkung im Zweiten Weltkrieg zu beschreiben, konzentriert sich Miyazaki auf den Menschen Hirokoshi, der danach strebt sich einen Traum zu erfüllen. Glücklicherweise kommt auch Wenn der Wind sich hebt nicht ohne das Phantastische aus, so beginnt der Film mit einem Traum. Dort lernt Jiro, der Junge aus Japan, sein grosses Vorbild kennen, den Flugzeugingenieur Graf Giovanni Battista Caproni, der in Jiros Träumen die Funktion eines spirituellen Leiters übernimmt. Schon in seinem ersten Traum wird das Unheil angedeutet, das Jiros Schöpfung heimsuchen wird. Doch er kann nicht anders, als seinem Traum zu folgen. So gelingt es ihm Chefingenieur bei Mitsubishi zu werden, wo er mit der Entwicklung eines Jagdflugzeugs beauftragt wird. Doch nach anfänglichen Rückschlägen wird er nach Deutschland geschickt, um die modernsten technischen Errungenschaften der Luftwaffe zu studieren.
Also wird der Schauplatz vom idyllischen Japan in ein unheimliches Dassau verlegt, in dem seltsame Dinge vorgehen. Jiro beobachtet, wie Männer einen fliehenden Jungen verfolgen und grosse dunkle Schatten im zwiespältigen Laternenlicht werfen. Doch Jiro beschäftigt sich nicht lange mit dieser Szene. Auf dem Tiefpunkt seiner Schaffenskrise wird die Szenerie noch einmal verlegt und dieses Mal – wieder dieses Phantastische – auf den japanischen Zauberberg.
Dort begegnet Jiro seiner verschollenen grossen Liebe und auf dem Zauberberg, wo alle Menschen Heilung suchen, vergisst er die Unannehmlichkeiten der grossen Welt im Tal. Krieg, moralische Konflikte und unangenehme Fragen werden ausgeblendet. Doch Jiros Liebe, und hier verlässt Miyazaki die historische Akkuratheit, um sich künstlerische Freiheiten zu nehmen, steht unter einem schlechten Stern, denn Nahoko leidet unter Tuberkulose.
Schnell wird klar, dass Nahoko Jiros Wind ist, der ihn anhebt und seine Schaffenskrise von dannen weht. Doch hier fängt das sympathische Bild des Jungen aus Japan an zu bröckeln, eine Tatsache, die so vielen Kritikern entgangen ist. Meisterhaft subtil lässt Miyazaki seinen Protagonisten zwischen Liebe und Schöpfung wählen. Jiro weiss, dass ihm und Nahoko wenig Zeit vergönnt sind, doch anstelle diese mit ihr zu verbringen – obwohl er sagt, er wolle jeden Tag so leben, als ob es ihr letzter sei – stürzt er sich in seine Arbeit und nutzt die Inspiration aus, die ihm Nahoko bietet. Dabei sehen wir Jiro von einer überraschend selbstsüchtigen Seite. Obwohl seiner Frau die frische Luft in den Bergen gut tut, widerspricht er nicht, als sie sich entschliesst zu ihm in das Tal zu ziehen (wieder dieses Motiv des heilenden Berges, eine Hochburg der Natur, gegenüber dem schädlichen Tal, der Heimat der Menschen). Er heiratet sie sogar und lässt sie bei sich leben. Als er dann anfängt neben seiner Tuberkulose kranken Frau zu Rauchen, zerbricht das Bild des selbstlosen Jiro Hirokoshi vollends.
So steuert der Film auf die grosse Katastrophe zu. Es gelingt Jiro seinen Zero Jäger zu entwickeln, doch Nahokos Wind entgleitet ihm. Sie bricht auf, weil sie nicht in den Armen ihres Liebsten sterben möchte und lässt ihn allein. Während Jiro seinen grossen Moment hat, stirbt Nahoko alleine, was Miyazaki taktvoll verschweigt, aber implizit andeutet. Am Ende des Films steht Jiro, wie der Erzähler in Valérys Gedicht, vor einem Firedhof, der als Schutthaufen aus Metall dargestellt ist – alles Flugzeuge die er gebaut hat. Im Traum trifft er noch einmal Graf Caproni. Der Aufmerksame Zuschauer wird nicht drum herum kommen sich die Frage zu stellen: „War es das alles Wert? War es Wert diesen Traum zu verwirklichen auf Kosten von Nahokos Leben und wohl auch auf Kosten von Jiros Glück?“. Miyazaki masst sich kein Urteil an, dies überlässt er den Zuschauerinnen und Zuschauern. Allerdings ist deutlich, dass auch hier der Grossmeister des Animes ein komplexes Bild eines Menschen, vielleicht der Menschheit als Solches, zeichnet und der Vorwurf einen Kriegstreiber zu verherrlichen bestätigt sich überhaupt nicht.
Miyazakis letzter Film ist keine leichtfüssige Unterhaltung, keine Entführung in eine Fantasiewelt, sondern fordert seine Zuschauer heraus. Versucht man die Vielschichtigkeit dieses Films aufzubrechen, so fallen einem so viele Motive auf, die geradezu politischer Natur sind. So lässt Miyazaki zu Beginn einen Zug (Technik) durch eine malerische Monet Landschaft stürmen (Natur), gefolgt vom historischen Erdbeben, das 1923 Tokyo verwüstete. In dieser Naturkatastrophe lernt Jiro Nahoko kennen. Etwas später sehen wir die Auswirkungen der grossen Depression auf Japans Menschen, die ihr Geld und Arbeit verlieren. Eine soziale Katastrophe. Abgeschlossen wird der Film von einer technischen Katastrophe, als ein brennender Himmel einen Metallfriedhof umschliesst. Drei Jahre nach dem Ereignis, das der ganzen Welt mit dem Begriff Fukushima in Erinnerung geblieben ist und ebenfalls sowohl eine Naturkatastrophe, soziale (weil Ökonomische) Katastrophe, wie auch eine technische Katastrophe war, ist Wenn der Wind sich hebt der erste Film, der dieses Thema implizit anspricht. Just zu dem Zeitpunkt, als die Abe Regierung Japans Atomausstieg rückgängig macht.
Doch Miyazaki drückt sich auch nicht um eine Sozialkritik. Er deutet schon im ersten Traum von Jiro durch einen brennenden Himmel, der Flugzeuge verschluckt, das bevorstehende Unheil an. Das Erdbeben in Tokyo liefert so viele Motive, die an die bevorstehende atomare Katastrophe verweisen und trotzdem lässt er den Protagonisten seinen Traum verwirklichen. Die Kritik könnte deutlicher kaum sein. Auch wenn Wissenschaft stets noble Ziele verfolgt, so darf sie nicht ausblenden, wie ihre Schöpfung eingesetzt wird. Etwas, das Jiro nie tut, ausser in seiner Traumwelt, wo er aber sagt, er würde lieber in einer Welt mit Pyramiden als in einer ohne Pyramiden leben. Ihm ist der Preis bewusst, den grosse Schöpfung zollt, doch trotzdem ist er bereit ihn zu zahlen.
Doch warum ist Jiro Hirokoshi trotzdem so ein sympathischer Junge aus Japan, der Schwache verteidigt und Fähig ist zu lieben? Miyazaki will es den (japanischen) Zuschauern zu Recht nicht einfach machen, indem er ihnen einen Antihelden gibt, dem sie alle Schuld zuweisen können, um ihr eigenes Gewissen rein zu halten. Nein, Jiro sieht die Gräueltaten der Nazis in Dassau und trotzdem spricht er diese in der Heimat nicht an. Wer spricht denn heute die japanischen Gräueltaten an? Ja, Jiro weiss, dass seine Flugzeuge zur Kriegsführung missbraucht werden und baut sie trotzdem. Doch warum muss er die alleinige Verantwortung für Japans Katastrophe schultern? Auch seine Begleiter wissen, dass ein Krieg droht, auch die Menschen in Japan waren nicht blind und trotzdem ist niemand aufgestanden und hat sich dagegen ausgesprochen.
Ist Jiro Hirokoshi nun ein Waffenschmid, der den Tod von Tausenden oder gar Millionen mitzuverantworten hat oder doch nur ein Mensch, der, als der Wind sich hebt, versucht zu leben? Und war dieser Traum den Preis, den Jiro (und seine Nation) bezahlen musste, wirklich wert? Diese Fragen und einige mehr, muss der Zuschauer selber beantworten, aber immerhin stellt der Film diese und drückt sich nicht davor, wie so viele Kritiker vorwerfen. Miyazaki weist mit Erfolg auf die Komplexität dieser Fragen hin und schafft es trotzdem eine berührende Geschichte zu erzählen, die genug Emotionalität besitzt, um feuchte Augen zu provozieren. Ein würdiger Abschied für eine Leitfigur des japanischen Animationsfilms.
Vielen Dank für die vielen zauberhaften Momente!
ich habe "Wenn der Wind sich hebt" gestern an der internationalen Animationsausstellung in Baden (Schweiz) gesehen und habe einen Kommentar dazu verfasst. Es ist kein klassischen Review mit den üblichen Kategorien, weshalb ich es einen Kommentar nenne.
Ihr könnt Text auch auf meinem Blog lesen, in etwas ansprechender Textgestaltung: http://anibusters.com/wenn-der-wind-sich-hebt/
Ein Kommentar zu Wenn der Wind sich hebt
Le vent se lève! . . . il faut tenter de vivre!
Der Wind erhebt sich! Leben: Ich versuche es! (dt. nach Rainer Maria Rilke)
Wenn der Wind sich hebt, dann müssen wir versuchen zu leben. Dieser Vers aus Paul Valéry Le cimetière marin („Der Friedhof am Meer“) dient als Leitmotiv für Hayao Miyazakis Abschiedswerk. Wie der Beobachter in Valérys Gedicht, versucht auch Jiro Horikoshi, in einer verrückten Welt, die auf ihren Untergang zusteuert, lediglich seinen Lebenstraum vom Flugzeuge Bauen zu verwirklichen.
In seinem letzten Werk wird Miyazaki zur Überraschung – und für manche zum Leidwesen – profan. Keine zauberhafte Fantasiewelt erwartet die Zuschauerinnen und Zuschauer in Wenn der Wind sich hebt, sondern ein historisch angesiedeltes Porträt eines umstrittenen Volkshelden. Jiro Hirokoshi war der Entwickler des im Zweiten Weltkrieg gefürchteten A6M Zero Jagdflugzeugs der Kaiserlich Japanischen Marine. Dieses technisch überlegene Kampfflugzeug verlieh den japanischen Streitkräften ungeheure Schlagkraft und war massgeblich am Angriff auf Pearl Harbor beteiligt. Heute ist Hirokoshi in Japan für die einen ein Wissenschaftsheld der japanischen Industrialisierung und für die anderen ein amoralischer Waffenschmied, der für die Katastrophe von Hiroshima und Nagasaki mitverantwortlich war, was Miyazaki an mehreren Stellen andeutet.
Der in seinen Filmen stets unpolitische – aber nicht so in seinen Medienauftritten – Miyazaki betritt mit dieser Geschichte neues und tückisches Terrain. So erntete sein jüngstes und bedauerlicherweise letztes Oeuvre viel Kritik, die zwischen den Polen Landesverrat und Verharmlosung eines Waffenentwicklers vom Schlage Werner von Braun oszilliert. Doch wer denkt Miyazaki würde in seinen Filmen jemals klare Positionen beziehen, kennt sein Lebenswerk nicht gut. Man darf darin nicht nach „der Botschaft“ oder „der Aussage“ suchen, denn die wird man nicht finden. Miyazaki ist ein Meister, wenn es darum geht Komplexität auszudrücken, was wohl nirgends deutlicher zum Ausdruck kommt als in seinem brillanten Film Prinzessin Mononoke. Anstatt den Moralapostel zu spielen, drückt der japanische Kultregisseur lieber die Vielschichtigkeit von menschlichem Handeln aus. Wenn er Eingriffe in die Natur kommentiert, dann kritisiert er diese nicht nur, sondern bringt zugleich die subsistenzielle Notwendigkeit der Menschen ans Licht, welche diese Eingriffe tätigen. Das moralische Urteil allerdings, ist stets seinen Zuschauern überlassen. Doch dieses Mal wird Miyazaki etwas deutlicher und veröffentlicht zeitgleich zu seinem Film einen Zeitungsartikel, in dem er die angestrebte Verfassungsänderung der Regierung Abe kritisiert, welche den Artikel 9 abschaffen will, mit dem Japan darauf verzichtet Konflikte mit Ausübung oder Androhung von militärischer Gewalt, zu lösen. Eine klare Position des stets unpolitischen Miyazaki, der aber deutlich macht, dass sein Film nicht als Romantisierung eines Helden verstanden werden soll, sondern als Porträt eines Menschen.
So geht er auch mit seinem Protagonisten Jiro Hirokoshi um. Anstelle ihn im Kontext seiner Wirkung im Zweiten Weltkrieg zu beschreiben, konzentriert sich Miyazaki auf den Menschen Hirokoshi, der danach strebt sich einen Traum zu erfüllen. Glücklicherweise kommt auch Wenn der Wind sich hebt nicht ohne das Phantastische aus, so beginnt der Film mit einem Traum. Dort lernt Jiro, der Junge aus Japan, sein grosses Vorbild kennen, den Flugzeugingenieur Graf Giovanni Battista Caproni, der in Jiros Träumen die Funktion eines spirituellen Leiters übernimmt. Schon in seinem ersten Traum wird das Unheil angedeutet, das Jiros Schöpfung heimsuchen wird. Doch er kann nicht anders, als seinem Traum zu folgen. So gelingt es ihm Chefingenieur bei Mitsubishi zu werden, wo er mit der Entwicklung eines Jagdflugzeugs beauftragt wird. Doch nach anfänglichen Rückschlägen wird er nach Deutschland geschickt, um die modernsten technischen Errungenschaften der Luftwaffe zu studieren.
Also wird der Schauplatz vom idyllischen Japan in ein unheimliches Dassau verlegt, in dem seltsame Dinge vorgehen. Jiro beobachtet, wie Männer einen fliehenden Jungen verfolgen und grosse dunkle Schatten im zwiespältigen Laternenlicht werfen. Doch Jiro beschäftigt sich nicht lange mit dieser Szene. Auf dem Tiefpunkt seiner Schaffenskrise wird die Szenerie noch einmal verlegt und dieses Mal – wieder dieses Phantastische – auf den japanischen Zauberberg.
Dort begegnet Jiro seiner verschollenen grossen Liebe und auf dem Zauberberg, wo alle Menschen Heilung suchen, vergisst er die Unannehmlichkeiten der grossen Welt im Tal. Krieg, moralische Konflikte und unangenehme Fragen werden ausgeblendet. Doch Jiros Liebe, und hier verlässt Miyazaki die historische Akkuratheit, um sich künstlerische Freiheiten zu nehmen, steht unter einem schlechten Stern, denn Nahoko leidet unter Tuberkulose.
Schnell wird klar, dass Nahoko Jiros Wind ist, der ihn anhebt und seine Schaffenskrise von dannen weht. Doch hier fängt das sympathische Bild des Jungen aus Japan an zu bröckeln, eine Tatsache, die so vielen Kritikern entgangen ist. Meisterhaft subtil lässt Miyazaki seinen Protagonisten zwischen Liebe und Schöpfung wählen. Jiro weiss, dass ihm und Nahoko wenig Zeit vergönnt sind, doch anstelle diese mit ihr zu verbringen – obwohl er sagt, er wolle jeden Tag so leben, als ob es ihr letzter sei – stürzt er sich in seine Arbeit und nutzt die Inspiration aus, die ihm Nahoko bietet. Dabei sehen wir Jiro von einer überraschend selbstsüchtigen Seite. Obwohl seiner Frau die frische Luft in den Bergen gut tut, widerspricht er nicht, als sie sich entschliesst zu ihm in das Tal zu ziehen (wieder dieses Motiv des heilenden Berges, eine Hochburg der Natur, gegenüber dem schädlichen Tal, der Heimat der Menschen). Er heiratet sie sogar und lässt sie bei sich leben. Als er dann anfängt neben seiner Tuberkulose kranken Frau zu Rauchen, zerbricht das Bild des selbstlosen Jiro Hirokoshi vollends.
So steuert der Film auf die grosse Katastrophe zu. Es gelingt Jiro seinen Zero Jäger zu entwickeln, doch Nahokos Wind entgleitet ihm. Sie bricht auf, weil sie nicht in den Armen ihres Liebsten sterben möchte und lässt ihn allein. Während Jiro seinen grossen Moment hat, stirbt Nahoko alleine, was Miyazaki taktvoll verschweigt, aber implizit andeutet. Am Ende des Films steht Jiro, wie der Erzähler in Valérys Gedicht, vor einem Firedhof, der als Schutthaufen aus Metall dargestellt ist – alles Flugzeuge die er gebaut hat. Im Traum trifft er noch einmal Graf Caproni. Der Aufmerksame Zuschauer wird nicht drum herum kommen sich die Frage zu stellen: „War es das alles Wert? War es Wert diesen Traum zu verwirklichen auf Kosten von Nahokos Leben und wohl auch auf Kosten von Jiros Glück?“. Miyazaki masst sich kein Urteil an, dies überlässt er den Zuschauerinnen und Zuschauern. Allerdings ist deutlich, dass auch hier der Grossmeister des Animes ein komplexes Bild eines Menschen, vielleicht der Menschheit als Solches, zeichnet und der Vorwurf einen Kriegstreiber zu verherrlichen bestätigt sich überhaupt nicht.
Miyazakis letzter Film ist keine leichtfüssige Unterhaltung, keine Entführung in eine Fantasiewelt, sondern fordert seine Zuschauer heraus. Versucht man die Vielschichtigkeit dieses Films aufzubrechen, so fallen einem so viele Motive auf, die geradezu politischer Natur sind. So lässt Miyazaki zu Beginn einen Zug (Technik) durch eine malerische Monet Landschaft stürmen (Natur), gefolgt vom historischen Erdbeben, das 1923 Tokyo verwüstete. In dieser Naturkatastrophe lernt Jiro Nahoko kennen. Etwas später sehen wir die Auswirkungen der grossen Depression auf Japans Menschen, die ihr Geld und Arbeit verlieren. Eine soziale Katastrophe. Abgeschlossen wird der Film von einer technischen Katastrophe, als ein brennender Himmel einen Metallfriedhof umschliesst. Drei Jahre nach dem Ereignis, das der ganzen Welt mit dem Begriff Fukushima in Erinnerung geblieben ist und ebenfalls sowohl eine Naturkatastrophe, soziale (weil Ökonomische) Katastrophe, wie auch eine technische Katastrophe war, ist Wenn der Wind sich hebt der erste Film, der dieses Thema implizit anspricht. Just zu dem Zeitpunkt, als die Abe Regierung Japans Atomausstieg rückgängig macht.
Doch Miyazaki drückt sich auch nicht um eine Sozialkritik. Er deutet schon im ersten Traum von Jiro durch einen brennenden Himmel, der Flugzeuge verschluckt, das bevorstehende Unheil an. Das Erdbeben in Tokyo liefert so viele Motive, die an die bevorstehende atomare Katastrophe verweisen und trotzdem lässt er den Protagonisten seinen Traum verwirklichen. Die Kritik könnte deutlicher kaum sein. Auch wenn Wissenschaft stets noble Ziele verfolgt, so darf sie nicht ausblenden, wie ihre Schöpfung eingesetzt wird. Etwas, das Jiro nie tut, ausser in seiner Traumwelt, wo er aber sagt, er würde lieber in einer Welt mit Pyramiden als in einer ohne Pyramiden leben. Ihm ist der Preis bewusst, den grosse Schöpfung zollt, doch trotzdem ist er bereit ihn zu zahlen.
Doch warum ist Jiro Hirokoshi trotzdem so ein sympathischer Junge aus Japan, der Schwache verteidigt und Fähig ist zu lieben? Miyazaki will es den (japanischen) Zuschauern zu Recht nicht einfach machen, indem er ihnen einen Antihelden gibt, dem sie alle Schuld zuweisen können, um ihr eigenes Gewissen rein zu halten. Nein, Jiro sieht die Gräueltaten der Nazis in Dassau und trotzdem spricht er diese in der Heimat nicht an. Wer spricht denn heute die japanischen Gräueltaten an? Ja, Jiro weiss, dass seine Flugzeuge zur Kriegsführung missbraucht werden und baut sie trotzdem. Doch warum muss er die alleinige Verantwortung für Japans Katastrophe schultern? Auch seine Begleiter wissen, dass ein Krieg droht, auch die Menschen in Japan waren nicht blind und trotzdem ist niemand aufgestanden und hat sich dagegen ausgesprochen.
Ist Jiro Hirokoshi nun ein Waffenschmid, der den Tod von Tausenden oder gar Millionen mitzuverantworten hat oder doch nur ein Mensch, der, als der Wind sich hebt, versucht zu leben? Und war dieser Traum den Preis, den Jiro (und seine Nation) bezahlen musste, wirklich wert? Diese Fragen und einige mehr, muss der Zuschauer selber beantworten, aber immerhin stellt der Film diese und drückt sich nicht davor, wie so viele Kritiker vorwerfen. Miyazaki weist mit Erfolg auf die Komplexität dieser Fragen hin und schafft es trotzdem eine berührende Geschichte zu erzählen, die genug Emotionalität besitzt, um feuchte Augen zu provozieren. Ein würdiger Abschied für eine Leitfigur des japanischen Animationsfilms.
Vielen Dank für die vielen zauberhaften Momente!
Zuletzt bearbeitet: